„Berufsorientierung geht alle an“ – Interview mit Jo Diercks (Teil 2)

31.08.2023, Martin Salwiczek

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Joachim – Jo – Diercks ist einer der führenden Experten für Eignungsdiagnostik sowie Studien- und Berufsorientierung aus Arbeitgebersicht in Deutschland. Als Geschäftsführer der Firma Cyquest zählt er Unternehmen wie Bertelsmann, Porsche, Fielmann, Edeka und mehrere Hochschulen zu seinen Kunden. Darüber hinaus ist er Co-Autor des Buches ‚Recrutainment‘ und Autor zahlreicher Fachbeiträge in seinem gleichnamigen Blog. Wir lesen und schätzen seine Fachbeiträge seit vielen Jahren. Auf der New Work Experience (NWX) in Hamburg hatten wir die Gelegenheit, ihn persönlich kennenzulernen, und aus dieser Begegnung entstand die Idee für unser Interview zum Thema Berufsorientierung aus Bewerber- und Arbeitgebersicht.

Das Gespräch mit Jo war so spannend und brachte so viele Erkenntnisse, dass wir uns trotz Kürzung dazu entschieden haben, das Interview in zwei Teilen zu veröffentlichen. Der erste Teil wurde am 23.08.2023 in unserem Karriere-Blog veröffentlicht.

Martin Salwiczek: Gehen wir eine Alters- oder Bildungsstufe weiter. Aktuell erkennen wir ja zwei gegenläufige Strömungen auf dem Arbeitsmarkt: Auf der einen Seite den Wandel vom Arbeitgeber- zum Bewerbermarkt, in dem sich die Bewerber*innen vermeintlich ihren Job aussuchen können.  Auf der anderen Seite immer mehr Berufseinsteiger*innen, die bereits ein Studium absolviert haben, aber Angst haben, keinen passenden Beruf zu finden, Unkenntnis über die eigenen Ziele haben oder durch die Vielzahl der beruflichen Möglichkeiten verunsichert sind. Was läuft hier schief?

Jo Diercks: Da sind wir wieder bei der Informationsflut, mit der auch Berufseinsteiger zu kämpfen haben. Geht es bei Schülern um die Frage, welcher Ausbildungsberuf oder welches Studium zu ihnen passt, fragen sich Berufseinsteiger, welcher Beruf bzw. welches Unternehmen zu ihnen passt. Dann kommen noch persönliche Überlegungen und Bedürfnisse hinzu. Fragen wie „Was kann ich wirklich“ oder „Was macht mich glücklich“ tauchen auf. Die Wahl des bisherigen Studiums oder der Ausbildung ist schon eine gute Zutat, um den passenden Beruf zu finden, aber noch keine Garantie für berufliches Lebensglück. Deshalb sind an dieser Stelle Hilfen zur Selbsterkenntnis, z. B. durch Self-Assessments, sinnvoll.  Das passiert noch viel zu selten, dass wir uns intensiv mit der Frage auseinandersetzen: „Wer bin ich?“, „Was kann ich?“, „Was will ich?“.

Berufsorientierung geht alle an und nimmt die Betriebe in die Pflicht

MS: Das gilt ja auch für Berufserfahrene. Ich erlebe in meiner Arbeit viele Arbeitssuchende, die sich beruflich verändern wollen oder müssen, denen aber die Orientierung fehlt und die deshalb Schwierigkeiten haben, einen beruflichen Quereinstieg zu finden.

JD: Berufsorientierung als Thema wird in der Tat immer noch stark mit der beruflichen Erstorientierung in Verbindung gebracht. Es betrifft aber, wie du sagst, Menschen aller Alterskohorten. Früher war es so: Wenn man 20 Jahre in einem Beruf gearbeitet hat, dann hat man das in der Regel bis zum Ende des Berufslebens gemacht. Heute sind viele Menschen damit konfrontiert, dass es ihren Beruf gar nicht mehr gibt bzw. sich dieser stark verändert hat oder dass sie beruflich etwas Neues machen wollen. Dieser Orientierungsbedarf ist einfach riesig und wird in Zukunft noch viel größer werden. 
Hier müssen Unternehmen Möglichkeiten finden, Quereinstiege zu ermöglichen und vielleicht auch durch Orientierungsangebote Menschen in Berufe zu bekommen, wo wir Mangelprofile haben.

MS: Was könnten Arbeitgeber an dieser Stelle tun?

JD: Ich glaube, dass die Unternehmen gut beraten sind, den Bewerbern Hilfestellungen zu geben, damit sie sich selbst besser verorten können. Es wird immer noch zu sehr an die Besetzung von Stellen gedacht. Man stelle sich aber vor, man nutzt auf der Website eines Unternehmens ein Tool, mit dem man herausfinden kann, welche Eigenschaften man hat, was man kann und was man will, und als Antwort bekommt man, welche Optionen das Unternehmen für einen hat. Auf diese Weise kann ein Unternehmen auch unabhängig von Stellenanzeigen interessante Kandidaten finden.

Hilfreiche Instrumente zur Berufsorientierung

MS: Du nennst die Hilfe zur Selbsterkenntnis durch Self-Assessments als hilfreiches Tool für Orientierungssuchende. Ich denke da an den Talentkompass NRW oder das Tool New Plan der Bundesagentur für Arbeit. Welche Verfahren kannst Du empfehlen?

JD: Es gibt so viele Facetten, mit denen man das ‚berufliche Ich‘ beschreiben kann: Um die Persönlichkeit zu beschreiben, sind dimensionale Verfahren hilfreich, die zum Beispiel auf dem Big-Five-Modell basieren und Motivationsskalen integriert haben. Hier kann ich etwa die Plattform BOA von ZEIT ONLINE empfehlen.
Berufliche Interessen können z. B. mit dem Holland-Modell beschrieben werden (siehe etwa den ‚Berufswahltest‘ bei Einstieg. Dann kommt noch die Überprüfung von Werten hinzu, für die es bestimmte Cultural-Fit-Modelle gibt (z. B. der ‚KulturMatcher‘ bei OTTO).
Die Durchführung dieser Verfahren allein reicht jedoch nicht aus. Die Ergebnisse helfen zwar, sich selbst besser zu verstehen. Die Herausforderung besteht aber darin, die Ergebnisse dieser Tests in passende Berufe und Einstiegsoptionen zu übersetzen.

Den passenden Beruf zu finden ist eine Kombination aus Selbsterkenntnis und Aktivität

MS: Wie geht das am besten? Stell dir vor, du wärst in der Situation, dich beruflich neu orientieren zu wollen oder zu müssen. Wahrscheinlich würdest du genauso vorgehen wie beschrieben. Aber was würdest du mit den Ergebnissen machen?

JD: Als erstes würde ich mit Leuten aus meinem Umfeld sprechen. Auch mit Leuten, die einen Einblick in die Branchen, Bereiche oder Regionen haben, die für mich in Frage kommen. Ich würde mit ihnen über die Test-Ergebnisse sprechen, meine Ideen mit ihnen teilen und Ideen von ihnen bekommen. Ich würde auch nach anderen Beratern suchen, die passen könnten. Das garantiert zwar kein fertiges Bild, aber hier kommt auch das Zufallsprinzip ins Spiel: Je mehr Leute man anspricht, desto mehr bedingte Zufälle gibt es.

MS: Es gibt von Christian Busch das wunderbare Buch Erfolgsfaktor Zufall über das Serendipity-Prinzip, das beschreibt, wie man diesen ‚Zufall‘ systematisch erarbeiten kann.

JD: Genau darum geht es. Wie oft sagt man sich bei bestimmten Stationen im Lebenslauf: „Das war Zufall“ – und stellt erst im Nachhinein fest, dass der Zufall bestimmte Handlungen vorausgesetzt hat. Wenn man auf eine Veranstaltung geht und dadurch einen Job bekommt, dann war das natürlich Zufall, aber man hat die Wahrscheinlichkeit für diesen Zufall erheblich erhöht, weil man nicht zu Hause sitzen geblieben, sondern zur Veranstaltung gegangen ist.

Weiterbildung als „Begleiter“ bei der Berufsorientierung

MS: Bei uns machen viele Menschen Weiterbildungen, um ihre Chancen auf den ersten oder nächsten Job zu erhöhen. Welche Rolle spielt Weiterbildung aus deiner Sicht bei der Berufsorientierung? 

JD: Weiterbildung ist natürlich ein wichtiger ‚Begleiter‘ bei der Neuorientierung: Zum einen muss ich in anderen Tätigkeiten natürlich auch andere Dinge können und mich dafür weiterbilden; zum anderen ist Weiterbildung auch Inspiration, um auf andere Ideen zu kommen. Da sind wir wieder beim Prinzip der Serendipität. 

MS: Auch bei der Weiterbildung gibt es eine Vielzahl an Angeboten, Stichwort Informationsflut. Wie finde ich da die passende Qualifizierung?

JD: Genauso wie bei der Berufsorientierung: Indem man erst einmal herausfindet, was man will, und dann mit anderen darüber spricht. Auch hier gibt es Instrumente, die dabei helfen können. Wir haben zum Beispiel für die Weiterbildungsplattform ‚hoch und weit‘ einen Weiterbildungsinteressentest entwickelt, den "WIT". Der Test übersetzt die eigenen Interessen in mögliche Weiterbildungsangebote.

MS: Das sind viele wertvolle und hilfreiche Informationen. Möchtest du zum Schluss noch etwas loswerden? 

JD: Meine wichtigste Botschaft bin ich schon losgeworden: Berufsorientierung ist ein Riesenthema geworden, sowohl für Bewerber aller Altersgruppen als auch für Unternehmen. Es braucht Lösungen für alle Beteiligten, um Bewerbern Quereinstiege zu ermöglichen und Arbeitgebern die Möglichkeit zu geben, ungenutzte Potenziale zu entdecken. Ich bin zuversichtlich, dass wir in Zukunft von Unternehmensseite Angebote und Hilfestellungen sehen werden, die mehr Quereinstiege ermöglichen. 

MS: Vielen Dank für das Gespräch Jo!

Das war Teil 2 unseres Interviews mit Joachim Diercks. Hier geht's zu Teil 1.


 

 

 

 


 

 

Dies ist der Karriereblog von LVQ.de. Unsere Artikel werden verfasst von unserem Redaktionsteam bestehend aus Martin Salwiczek, Lars Hahn und Kay Pfefferkuchen.

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Für Berufstätige bietet die LVQ Business Akademie entsprechende Weiterbildungen. Der Fokus liegt auf der Vermittlung fachspezifischer Themen aus dem gesetzlich geregelten Bereich. Inhouse-Seminare, Beratung und Schulungen für Unternehmen runden das Angebot der LVQ ab.

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Autor

Martin Salwiczek

hat als Berater, Trainer und Experte für Jobsuche und Bewerbung einen engen Draht zu den Teilnehmern der LVQ. Daraus zieht er Ideen für seine Beiträge und findet immer wieder interessante Interviewpartner.