Recrutainment: Spielerische Wege der Berufsorientierung – Interview mit Jo Diercks (Teil 1)

24.08.2023, Martin Salwiczek

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Joachim – Jo – Diercks ist einer der führenden Experten für Eignungsdiagnostik sowie Studien- und Berufsorientierung aus Arbeitgebersicht in Deutschland. Als Geschäftsführer der Firma Cyquest zählt er Unternehmen wie Bertelsmann, Porsche, Fielmann, Edeka und mehrere Hochschulen zu seinen Kunden. Darüber hinaus ist er Co-Autor des Buches ‚Recrutainment‘ und Autor zahlreicher Fachbeiträge in seinem gleichnamigen Blog. Wir lesen und schätzen seine Fachbeiträge seit vielen Jahren. Auf der New Work Experience (NWX) in Hamburg hatten wir die Gelegenheit, ihn persönlich kennenzulernen, und aus dieser Begegnung entstand die Idee für unser Interview zum Thema Berufsorientierung aus Bewerber- und Arbeitgebersicht.

Das Gespräch mit Jo war so spannend und brachte so viele Erkenntnisse, dass wir uns trotz Kürzung dazu entschieden haben, das Interview in zwei Teilen zu veröffentlichen. Der zweite Teil folgt nächste Woche.

Martin Salwiczek: Hallo Jo, ich freue mich sehr, dass du Zeit gefunden hast. Da wir heute über Berufsorientierung sprechen, liegt meine erste Frage nahe: Was wolltest Du als Kind werden?

Jo Diercks: Das ist bei mir ganz unspektakulär. Ich wollte tatsächlich irgendwas mit Werbung machen. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht mehr, warum ich das so reizvoll fand. Lustigerweise habe ich heute auch irgendwie mit Marketing zu tun, wenn auch in einem ganz anderen Kontext, nämlich in Zusammenhang mit Personal- und Berufsorientierungsthemen.

Recrutainment: Ein spielerischer Ansatz zur Berufsorientierung

MS: Du stehst in Deutschland für den Begriff Recruitainment. Dein Buch dazu ist bereits in der zweiten Auflage erschienen. Kannst Du den Begriff kurz erläutern?

JD: Hinter Recrutainment verbirgt sich das Prinzip der Gamification, also der Anwendung spielerischer Elemente in Bereichen, die selbst kein Spiel sind. In diesem Fall bezieht sich Gamification auf die Personalgewinnung, also Recruiting und Employer Branding, aber eben auch auf den Bereich der Berufsorientierung. 

MS: Hast du praktische Beispiele, wie das im Bereich der Berufsorientierung aussieht?

JD: In der Berufsorientierung gibt es zwei Ansätze des Recrutainment: Zum einen gibt es sogenannte Matching-Tools. Das sind Selbsttests in Form von Frage-Antwort-Formaten, bei denen Fragen wie „Arbeitest du lieber drinnen oder draußen?“, „Arbeitest du lieber mit Menschen, Dingen oder Informationen?“ beantwortet werden. Das ist spielerisch, und über diese Abfrage von Eigenschaften und Interessen kann ich dann ableiten, was zum Beispiel der passende Ausbildungsberuf oder das passende Studium für dich sein könnte. Das kann man sich vom Prinzip her wie den Wahl-O-Maten vorstellen. Manche sagen auch „Tinder for Jobs“ …

Ein anderer Ansatz des Recrutainments sind Recruiting Games, die wie eine Art virtuelles Kurzpraktikum funktionieren. Du bekommst Aufgaben aus einem bestimmten Berufsbild gestellt, die du selbstständig lösen musst, um zu erkennen: „Hätte ich Spaß an solchen Aufgaben? Kann ich das? Will ich das?“ So bekommt der Bewerber einen sehr guten Einblick in das jeweilige Berufsbild. Der Fachbegriff dahinter ist „Realistic Job Preview“.

Berufsorientierung: Was in den Schulen falsch läuft

MS: Das ist in der Tat ein ganz anderer Ansatz als früher. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Berufseignungstest, laut dem Optiker zu mir gepasst hätte. Da wusste ich intuitiv: Das kann nicht sein. Dann der erste Besuch im Berufsinformationszentrum der Bundesagentur für Arbeit, die vielen schriftlichen Informationen über bestimmte Berufe, die für mich als Jugendlichen wie eine Fremdsprache waren. Eigentlich müsste Berufsorientierung ein festes Schulfach sein mit Ansätzen wie Recrutainment.

JD: Zum Glück tut sich da etwas. Mittlerweile gibt es dieses Schulfach ja in verschiedenen Ausprägungen in den einzelnen Bundesländern, wenn auch in sehr unterschiedlichem Maße. Es gibt tatsächlich schon Schulen, die mit diesen Recruiting Games arbeiten. Da wird dann das Handy gezückt, 10 Minuten ein bestimmter Beruf ausprobiert und dann darüber gesprochen. 

MS: Aber reicht das aus, um einen jungen Menschen auf den richtigen Weg zu bringen?

JD: Das hängt auch davon ab, wer das vermittelt. Leider wird das Thema viel zu oft von Lehrern vermittelt, die – ohne jetzt einer Berufsgruppe zu nahe treten zu wollen – ihr ganzes Leben in der Schule verbracht haben und mir jetzt vermitteln sollen, wie es außerhalb der Schule ist. Die Schüler bekommen dann häufig sowohl von den Lehrern als auch von den Eltern das Erziehungsmantra „Du kannst alles werden“ vermittelt. Dann stehen sie vor bis zu 600 Ausbildungsberufen oder, wenn sie eine Hochschulzugangsberechtigung haben, vor 12.000 Studiengängen und sollen sich im Internet das Passende heraussuchen. Wer soll das leisten? Dann findet die Orientierung doch wieder sehr stereotyp statt: Was machen Geschwister, Freunde, Eltern, Lehrer? Was kenne ich aus dem Fernsehen?

Self-Assessments und Selbsterkenntnis als erster Schritt für die Berufs- und Studienorientierung

MS: Wie kann ein junger Mensch alternativ mit dieser Informationsflut umgehen?

JD: Hier kommen der Self-Assessment-Ansatz und die Eignungsdiagnostik ins Spiel. Nehmen wir zum Beispiel das Thema Studienwahl, für das sich die Seite hochschulkompass.de anbietet. Dort sind alle Studiengänge in Deutschland an über 400 Hochschulen aufgelistet und du kannst einen Studieninteressentest machen, der etwa fünf bis zehn Minuten dauert. Die Ergebnisse kannst Du dann mit den Inhalten der jeweiligen Studiengänge abgleichen und dir wird eine engere Auswahl geeigneter Studiengänge geliefert. Filterst Du dann noch weiter nach Kriterien wie Standort, Art der Hochschule usw. hast Du aus den über 12000 Studiengängen vielleicht nur noch acht übrig. Mit diesem Ergebnis kann ich dann zur Studienberatung gehen und mir fachspezifischen Rat holen.

Das war Teil 1 unseres Interviews mit Joachim Diercks. Hier geht's zu Teil 2.


 

 

 

 


 

 

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Autor

Martin Salwiczek

hat als Berater, Trainer und Experte für Jobsuche und Bewerbung einen engen Draht zu den Teilnehmern der LVQ. Daraus zieht er Ideen für seine Beiträge und findet immer wieder interessante Interviewpartner.